Hass ist Kitschpolitik
1.11.2023
Ein paar mühsame Überlegungen zur Weiterentwicklung der Neutralität
Der Krieg in Palästina birgt so viel Offensichtlichkeit in sich, dass er sich gut eignet, die folgenden Gedanken darzulegen, die aber genauso anhand anderer aktueller Konflikte gemacht werden können.
Aus zivilisatorischer Sicht ist der Krieg eine primitive Sache; Er löst weder Konflikte, noch schafft er Sicherheit. Aus ihm entsteht Hass, der wiederum zu mehr Krieg führt. Da er so auf sich selbst referiert, eskaliert er weit über menschliches Übel hinaus und erzeugt Leid, dass für Menschen, die noch nie einen Krieg am eigenen Leib erlebt haben, unvorstellbar ist. Die Erinnerung an dieses Leid verblasst mit dem Ableben der Generation, die Krieg erlebt hat. Die Erinnerung wachzuhalten, um dem Hass vorzubeugen, wird im Westen leider vernachlässigt.
Treiber des Krieges ist die schwarz-weisse, vereinfachte und damit primitive Darstellung: Es gibt nur eine böse Partei - die anderen. Alles, was darüber hinaus differenzierter ist, muss unterdrückt werden, weil Differenzierung und Verständnis dem Hass die Grundlage entziehen und Krieg verunmöglichen würde. Pazifisten wird ihre Nähe zum oder ihr Verständnis für die 'Bösen' vorgeworfen, so lässt sich jedes Volk für den Krieg einspannen (vergl. letztes Interview mit Hermann Görings vor seinem Suizid, wir haben das in einem früheren Blogeintrag schon einmal gebracht).
Für uns im Westen hat der Krieg in Palästina offiziell nur eine Ursache - der Angriff der Hamas - und wir wollen weder Geschichte noch Konfliktanalyse, um das zu verstehen. Wir müssen auch nicht mit unschuldig leidenden Menschen auf allen Seiten sympathisieren und mitfühlen - nur mit 'unserer' Seite. Alles, was wir brauchen, sind politisch korrekte Emotionen und Parteinahme - unabhängig davon, ob es das noch schlimmer macht und noch mehr unschuldige Menschen in den Tod treibt oder nicht.
So erklärt die Ursula von der Leyen, dass "Europa an der Seite Israels steht" - aber welches Europa meint sie? Wurde sie jemals von Europa oder von den EU-Bürgern gewählt, um in deren Namen zu sprechen? Sie leistet damit aber auf jeden Fall einen Beitrag zu Gunsten des Kriegs.
Dem Krieg zu dienen ist eine in Kauf genommene Folge intellektueller und moralischer Faulheit: Die Verurteilung und Verunmenschlichung des Gegners erfordert kein Wissen oder komplexes Verständnis, aber sie spricht die Gemüter an, die Erzeugung von Hass ist ein zynische Form von Kitschpolitik. Sie fördert den Tod Tausender auf allen Seiten und ist von Grund auf menschenverachtend, denn es gibt immer Möglichkeiten, sich für den Frieden zu engagieren.
In der Ukraine stellt sich der Westen (NATO / EU-Länder, Japan und Korea) auf die Seite des Unterlegenen, der überfallen wurde. In Palästina stellt er sich auf die Seite Israels. Die Ukraine, als auch Israel („our largest American aircraft carrier in the world that cannot be sunk“ gemäss eines ehemaligen Staatssekretärs) sind Stellvertreter, mit denen die Vormacht der USA auf Kosten des Rests der Welt ausgefochten wird.
Wenn Israels Besatzungs- und Vernichtungspolitik ihren Lauf genommen hat - kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Treibstoff und vor allem keine Gnade, dazu die totale ethnische Säuberung und die Zerstörung von Wohngebieten - werden die Regierungen des Westens alles tun, um den Genozid mithilfe der Presse in eine Notwendigkeit, in ein das kleinst-mögliche, in Kauf zu nehmende Übel umzudeuten. Sie wüssten aber eigentlich jetzt schon, dass sie ihre Verantwortung im blutigen, moralischen Dilemma ertränkt haben, das sie selbst geschaffen haben.
Doch anstatt sich aufrichtig zu bemühen, aus der primitiven Eskalationsspirale herauszukommen, wird der Westen einen neuen, noch grösseren Konflikt finden (China, Iran, Korea…), der die gegenwärtige politisch-moralische Katastrophe vertuscht. Seine Reaktion wird sein wie immer: mehr Waffen, kein Waffenstillstand, keine Vermittlung und keine Verhandlungen, weil man mit dem 'Bösen' nicht verhandelt. Militaristisches Denken schliesst aus Sicht des Westens Diplomatie aus. Wir machen nie Fehler, an unserem Wesen soll die Welt genesen.
Da die Entscheidungsträger in den westlichen Hauptstädten in wirtschaftlicher, politischer, kultureller, diplomatischer und moralischer Hinsicht verloren haben, gibt es nur noch einen Ansatz - wie bei allen untergehenden Imperien in der Geschichte: Militarismus. Das bedeutet Massentötung und ethnische Säuberung. Man tötet die Menschen und nicht das Problem, das zwischen den Parteien die Gewalt überhaupt erst verursacht und weiter ungelöst bleibt.
Was wir in den kommenden Wochen und Monaten im Nahen Osten an Gräuel erleben werden, lässt das Massaker von Srebrenica und den Krieg in der Ukraine quantitativ verblassen. Die westliche Aussenpolitik ist mit rationaler Analyse, politikwissenschaftlichem oder internationalem Denken nicht mehr zu verstehen.
Wir brauchen Konzepte und Theorien aus der Psychologie und der Religion, um die Schuldzuweisungen, die Emotionalität, die psychopolitische Projektion, die Aufhebung der Unschuldsvermutung, die folgenschweren Unterlassungen, die Verleugnung, den Wiederholungszwang, die Paranoia, das Sündenbock-Denken, die Rache und die Aggression zu verstehen, die sich in der Politik der USA/NATO/EU-Länder in verschiedenen Varianten voll entfalten.
Für die westlichen Aussenministerien, die staatlich finanzierte Forschung und die Mainstream-Medien sind daher Konfliktanalyse, Konfliktlösung, Vermittlung, Friedenssicherung, Verhandlungen und Versöhnung keine ernsthafte Priorität mehr.
So düster die Situation derzeit erscheint, mit der Kenntnis dieser Mechanismen liesse sich der Teufelskreis auch einfach unterbrechen. Ich denke an John F. Kennedy, der mit seiner Rede die Kuba-Krise beendet hat – einer Rede, die strengenommen gar nicht an die eigene Bevölkerung gerichtet war, sondern eine Bekundung von Respekt und Verständnis an die Russen (Sowjetbürger) war. Die 'Bösen' sind auch Menschen, die ihre Kinder lieben.
Das ist die Neutralität, die der Schweiz gut anstünde. Sie ist dauernd zu entwickeln. Sie ist nicht einfach statisch, sie erfordert stetige Arbeit und lässt intellektuelle und moralische Faulheit nicht zu. Sie ist die einzige Form, die das Potential hat, echten Frieden zu bringen.