In der Thukydides-Falle
14.1.2025
Die in der gegenwärtigen Debatte oft bemühte Metapher der „Thukydides-Falle“ verweist auf ein scheinbar unausweichliches Konfliktpotenzial zwischen einer aufstrebenden Macht und einem etablierten Hegemon. Basierend auf den Analysen des antiken Historikers Thukydides zum Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta wird diese Vorstellung heute gern herangezogen, um die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China als quasi zwangsläufig gewalttätig darzustellen. Eine derart deterministische Auslegung wird dem Werk Thukydides’ jedoch nur unzureichend gerecht und bedarf einer sorgsamen Relativierung, um den Gehalt seiner historischen Lehre adäquat zu würdigen.
Thukydides untersuchte den Ausbruch des Peloponnesischen Krieges nicht bloss als unvermeidliches Ereignis, sondern als Resultat menschlicher Entscheidungen, Missverständnisse und sich gegenseitig verstärkender Macht- und Angstdynamiken. Zwar schrieb er, der Krieg sei „unvermeidlich“ gewesen, doch bezog sich diese Unvermeidlichkeit eher auf die Summe damaliger Handlungsweisen, psychologischer Faktoren (wie Furcht und Ehrgeiz) und aussenpolitischer Strategien, die in ihrer Gesamtheit keinen Ausweg mehr zuliessen. Diese Deutung legt nahe, dass alternative Pfade – gerade durch überlegte Diplomatie und Fehleinschätzungen vermeidende Kommunikation – durchaus realisierbar gewesen wären, hätten die Akteure die Dringlichkeit einer Konfliktbegrenzung frühzeitig erkannt.
Im gegenwärtigen Diskurs hat insbesondere der Politikwissenschaftler Graham Allison dazu beigetragen, den Begriff „Thukydides-Falle“ zu popularisieren, indem er den Peloponnesischen Krieg als archetypisches Beispiel für die strukturelle Rivalität zwischen einer etablierten und einer aufstrebenden Macht heranzieht. Dabei entsteht leicht der Eindruck einer zwangsläufigen und nahezu naturgesetzlichen Kausalität, wonach ein aufkommender Konflikt kaum zu verhindern sei. Viele folgen dieser Sichtweise und fokussieren sich damit stark auf die makrostrukturellen Bedingungen – sprich: die wachsende wirtschaftliche und militärische Stärke Chinas gegenüber den USA – während sie den Einfluss konkreter politischer Entscheidungen, Kommunikationsbemühungen, diplomatischer Institutionen sowie wechselseitiger ökonomischer Abhängigkeiten nicht nur vernachlässigen, sondern viel eher absichtlich missbrauchen.
In dieser reduzierten Form wird Thukydides’ Botschaft verkürzt und – bewusst? – missverstanden. Der antike Autor betonte vielmehr die Komplexität politischer Prozesse und die Bedeutung menschlicher Faktoren: Angst, Ehre, Misstrauen und Stolz sind ebenso entscheidend wie strategische Überlegungen. Anstatt einen unvermeidlichen Konflikt zu postulieren, demonstrierte Thukydides, wie der Mangel an Vertrauen und die wechselseitige Auslegung von Machtansprüchen zum Krieg führten – ohne dabei jede Option auf eine konfliktmindernde Politik von vornherein auszuschliessen.
Eine sorgfältigere Rezeption in Thukydides’ Sinne würde daher auf die Frage lenken, unter welchen Bedingungen Grossmächte trotz wachsender Konkurrenz koexistieren können und wie Missverständnisse abgebaut, Verhandlungen gefördert und aussenpolitische Eskalationen vermieden werden können. Statt Thukydides als Propheten unausweichlicher Kriege zu deuten, erscheint es angemessener, ihn als Mahner zu verstehen: Die Möglichkeit, Konflikte durch weitsichtige Politik und eine kluge Ausbalancierung von Interessen zu entschärfen, ist vorhanden – wenn die beteiligten Akteure rechtzeitig zur Einsicht gelangen, dass Krieg nicht der Endpunkt einer „Falle“ ist, sondern das Ergebnis einer von Menschen gestalteten, jederzeit veränderbaren Entwicklung.